I.
„Der Tod ist groß.
Wir sind die Seinen lachenden Munds.
Wenn wir uns mitten im Leben meinen,
wagt er zu weinen
mitten in uns.“
Unter dem Titel „Schlussstück“ beschließen diese bekannten Worte von Rainer Maria Rilke aus dem Jahr 1901 die Gedichtsammlung „Buch der Bilder“. Ich dachte an diese Worte, weil sie, wie wir noch sehen werden, kontrastieren zu dem Werk, das uns heute Abend beschäftigen soll: Die „Actus tragicus“ genannte Kantate von Johann Sebastian Bach, BWV 106.
Ja, der Tod ist groß. Vor ein paar Wochen sind innerhalb kurzer Zeit drei Menschen aus dem Umfeld der St. Lorenz-Kantorei gestorben. In den vergangenen Jahren mussten wir immer wieder von aktiven Mitgliedern der Kantorei „Abschied nehmen“, wie man so sagt, weil sie gestorben sind. Manche wurden sehr früh aus dem „Leben gerissen“ – auch so eine Formulierung, mit der wir den Tod umschreiben.
Um das Unfassbare, den Tod, der uns allen bevorsteht, zu bewältigen, ist in der ganzen Menschheitsgeschichte immer auch auf die Musik zurückgegriffen worden: Klagegesänge, Lieder (auch aus dem Gesangbuch) und Trauermusiken. Zur Trauerfeier eines prominenten Menschen, etwa eines Fürsten, haben zeitgenössische Komponisten bis in die Gegenwart ein neues Werk geschrieben. Die Liste dieser Trauermusiken ist unendlich lang, ich nenne nur Heinrich Schütz, Dietrich Buxtehude, Georg Philipp Telemann, Wolfgang Amadeus Mozart und beispielhaft für ein jüngeres Werk Paul Dessau aus Anlass des Todes von Bertolt Brecht.
II.
Wenn ich es richtig recherchiert habe, hat Johann Sebastian Bach 5 Trauermusiken zu verschiedenen Anlässen komponiert. Die erste wäre der „Actus tragicus“ gewesen. Sie können an der Formulierung „wäre“ erkennen, dass manches an der Entstehungsgeschichte dieses Werkes im Ungefähren verbleiben muss.
- Es gibt kein Original dieser Kantate oder eine zeitgenössische Abschrift. Ein anonymer Kopist hat die Kantate im Oktober 1768 veröffentlicht, also 18 Jahre nach Bachs Tod 1750. Von diesem Kopisten stammt auch der Titel „Actus tragicus“ („Trauerstück“, bei Telemann heißt es: „Trauer-Actus“). Wegen der überragenden Qualität der Musik waren sich die „Gelehrten“ schnell einig, dass das Werk von Bach stammen müsse – und zwar nicht aus seiner Leipziger Zeit, sondern aus den Jahren davor. Dafür kommen Bachs Mühlhäuser Aufenthalt von 1707 bis 1708 oder die Weimarer Zeit von 1708 bis 1717 in Frage. Im Allgemeinen wird die Kantate heute dem Wirken Bachs im thüringischen Mühlhausen zugeschrieben, es handelt sich also um ein ganz frühes Werk des 22- oder 23-Jährigen. Zu dieser Zuschreibung an Bach haben auch Vergleiche mit anderen frühen Kantaten Bachs beigetragen, die im Original vorliegen.
- Es lässt sich nicht mehr klären, was der Anlass für die Komposition war, die wohl für eine Trauerfeier entstand. Ein Onkel Bachs, der Bach in seinem Testament großzügig bedachte, starb im Jahre 1707; ein Bürgermeister von Mühlhausen starb 1708 – dann wäre die Kantate bereits in Weimar entstanden. Da Bach, der an der Mühlhausener St. Blasius-Kirche Organist war, mit dem Pfarrer Georg Christian Eilmar an der St. Marienkirche befreundet war, könnte auch noch der Tod von dessen Schwester im Jahre 1708 den Anlass für die Kantate gegeben haben.
Vielleicht lassen sich die Umstände der Entstehung des Werkes eines Tages noch vollständig auflösen... Wir wollen aber mit der Fachwelt die Kantate als ein Frühwerk von Johann Sebastian Bach und ihn als Schöpfer dieses großartigen Stücks ansehen! Der 2011 gestorbene Bachforscher Alfred Dürr bezeichnet die Kantate in seinem Buch Die Kantaten von Johann Sebastian Bach mit ihren Texten als „ein Geniewerk, wie es auch großen Meistern nur selten gelingt“.
III.
Im Gegensatz zu den ungesicherten Entstehungsumständen der Kantate lässt sich die Frage von möglichen Vorlagen leichter beantworten. Der Theologe Johannes Olearius (1611-1684) veröffentliche 1668 eine „Christliche Bet-Schule“, in deren 3. Teil unter dem Titel „Christliche Seuffzer und Gebet um ein seliges Ende“ 6 Bibelworte aufgeführt sind. 5 davon sind im „Actus tragicus“ übernommen worden. Die „Christliche Bet-Schule“ kann man als Faksimile im Internet finden. Auch sonst hat Bach häufiger auf die Arbeit von Olearius zurückgegriffen.
In Bachs Kantate entsprechen die Nummern 2c, 2d, 3a und 3b der Vorlage (auch in der Reihenfolge). Weggelassen hat er den Text „Ich habe Lust abzuscheiden und bei Christo zu seyn“ aus dem Brief des Paulus nach Philippi. Man kann sich fragen, ob diese Weglassung mit dem noch jugendlichen Alter Bachs zu tun hat, der noch nicht daran dachte, „abzuscheiden“. An die Stelle des Textes aus dem Brief des Paulus nach Philippi tritt ein instrumental vorgetragener Kirchenliedsatz auf die Melodie „Ich hab mein Sach Gott heimgestellt“. Dieses Lied wurde von dem lutherischen Pfarrer Johann Leon (1531 – 1597) gedichtet und auch in BWV 531, 707 und 708 verwendet. Der Komponist des Liedes ist unbekannt.
Die folgende Tabelle zeigt in der linken Spalte die einzelnen Teile der Kantate mit der musikalischen Besetzung. Spalte 2 enthält die Faksimileauszüge aus der „Christlichen Bet-Schule“ von Olearius, Spalte 3 den vollständigen Text der Kantate. In der letzten Spalte sind die Originalquellen (wie Bibelworte usw.) aufgeführt. Im Prinzip hält sich Bach damit an die damals übliche Mischung aus Bibelworten und Choralversen. Eine kraftvolle Mischung!
|
„Christliche
Bet-Schule“ (Olearius-Faksimile) |
Kantatentext |
Quellen |
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1. Sonatina |
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2a. Coro |
|
Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit. solange er will. In ihm sterben wir zur rechten Zeit, wenn er will. |
(von
Bach gedichtet?) (Apostelgeschichte 27, 28a) (von Bach gedichtet?) |
|||||||||
2b. Arioso Tenor |
|
Ach, Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden. |
(Psalm 90,12) |
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2c. Aria Bass |
Bestelle dein Haus; denn du wirst sterben und nicht lebendig bleiben. |
(So spricht der HERR:) (Jesaja 38, 1b) |
||||||||||
2d. Coro |
|
Es ist der alte Bund: (Mensch,) du musst sterben! Sopran |
(Jesus Sirach 14, 18) (Melodie „Ich hab mein Sach Gott
heimgestellt“ ersetzt das Bibelwort. Sie wird, immer
wieder unter-brochen, über die Sopranstimme gelegt, die
mit dem „alten Bund“ kontrastiert.) (Offenbarung 22, 20b) |
|||||||||
3a. Aria Alt |
In deine Hände befehl ich meinen Geist; du hast mich erlöset, Herr, du getreuer Gott. |
(Psalm 31,6) |
||||||||||
3b. Arioso Bass und Choral Alt |
|
Heute wirst du mit mir im Paradies
sein. |
(Lukas 23, 43) = 1. Strophe des Chorals von Martin Luther (nach dem Lobgesang des Simon, Lukas 2) (EG 519) |
|||||||||
4. Coro |
Glorie, Lob, Ehr und Herrlichkeit / Sei dir, Gott Vater und Sohn bereit, / Dem heilgen Geist mit Namen! / Die göttlich Kraft / Mach uns sieghaft / Durch Jesum Christum, Amen. |
= Siebte Strophe des Liedes „In dich hab ich gehoffet, Herr“ von Adam Reusner (1533). (EG 275) |
|
|||||||||
Die Kantate beginnt mit einer nur instrumental komponierten „Sonatina“ und stimmt somit auf das Werk ein. Im Stück 2a singt der Chor zunächst die Worte „Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit“. Hat Bach sie – wie auch die späteren Worte „solange er will. In ihm sterben wir zur rechten Zeit, wenn er will“ – selbst verfasst oder einer unbekannten Vorlage entnommen? Das muss offen bleiben. Zusammen mit dem Vers „In ihm leben, weben und sind wir“ aus der Apostelgeschichte des Lukas verdeutlicht Bach eindrucksvoll zu Anfang, dass des Christen Leben wie Sterben „Zeit Gottes“ ist. Seine Zeit umfängt unsere irdische Zeit.
(Kleine Anmerkung an dieser Stelle: Ich finde es schade, dass man der Kantate den Titel „Actus tragicus“ gegeben hat – und nicht: „Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit“...)
Die Stücke 2b und 2c (Tenor-Arioso und Bass-Arie) greifen nun das Thema des Todes im Sinne des „memento mori“, des sich unsrer Sterblichkeit bewusst Werdens, auf. Dazu verarbeitet Bach nun ein Wort aus Psalm 90 („Ach, Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden“). und, zum ersten Mal der Vorlage von Olearius folgend, eine Mahnung des Propheten Jesaja („Bestelle dein Haus; denn du wirst sterben und nicht lebendig bleiben“).
Der Coro 2d kann das Herzstück der Kantate genannt werden. Die ihm zugrundeliegenden Worte hat Bach dem Buch „Jesus Sirach“ aus den sogenannten Apokryphen zum Alten Testament entnommen. Wohl im Wortlaut der Lutherbibel von 1545, wo übersetzt ist: „Es ist der alte Bund / Du must sterben“. Ausgedrückt durch eine gewaltige Fuge wird uns geradezu eingehämmert: „Du musst, du musst, du musst … sterben.“
Die Worte „Es ist der alte Bund“ lassen sich so verstehen, dass damit das alte, irdische Gesetz des Sterbenmüssens ausgedrückt wird. Sie lassen sich sicher auch so verstehen, dass mit dem „alten Bund“ das Alte Testament gemeint ist, das eine wirkliche Überwindung der Todesangst nach der gängigen christlichen Auffassung noch nicht zuwege gebracht hat. Eine solche Deutung erschiene uns Heutigen fragwürdig, begreifen wir doch immer mehr, wie das Neue Testament vorhandene Linien des Alten Testaments auszieht, neu interpretiert und kommentiert – und das Neue Testament das Alte nicht einfach ersetzt.
Moderne Übersetzungen zeigen übrigens, dass bei Jesus Sirach gar nicht vom „alten Bund“ die Rede ist (das ist Luthers erste Übersetzung). So heißen die fraglichen Worte in der Übersetzung der Lutherbibel von 2017: „Es gilt der ewige Beschluss: Du musst sterben!“
Um zu beschreiben, wie es in der Kantate nach dem „Du musst sterben“ weitergeht, zitiere ich etwas länger aus einer Predigt, die ich im Internet gefunden habe:
Auf einmal der
helle Sopran, bittend, rufend: „Ja, komm, Herr Jesu“. Diese
Stimme hält sich nicht an das Gesetz. Sie durchbricht die Fuge
und deren Botschaft immer wieder von Neuem. „Ja, komm, Herr
Jesu!“ Diese Stimme des Glaubens beseitigt nicht das Gesetz,
aber es wird verändert. Am Ende wird die Melodie auf die Worte
„du musst sterben“ so verändert, dass sie der Stimme des
Glaubens gleicht. Und beim letzten Mal wird das „Sterben“
kraftvoll nach oben strebend gesungen – dem kommenden Christus
entgegen. Der Sopran beschließt dann seine Bitte allein, ohne
Chor, ohne Instrumente – schon ein wenig entrückt und verzückt –
und verklingt.
Bach hat an
dieser Stelle – sehr ungewöhnlich für das Ende eines Stückes –
einen zusätzlichen ganzen Takt Pause für alle Stimmen notiert.
Ein Bach-Interpret deutet diese Pause als die „Stille des Todes
… und zugleich schon Echo künftiger Himmelsfreuden“ (Geck), ein
anderer als Zeit des Schweigens vor Gott, in dem die Kehrtwende
und der Trost sich wortlos ereignen und sich aller Sprache
entziehen (Walter).
Jedoch – diese
Musik hat noch eine weitere Bedeutungsebene. Die Instrumente
musizieren dreistimmig den Choral „Ich hab mein Sach‘ Gott
heimgestellt“. Immer zum Sopran, zur Stimme des Glaubens,
erklingt der Choral. Damals ein bekanntes Lied, heute völlig
unbekannt!“ [Beispiel
0] (Universitätsprediger Prof. Dr. Helmut Schwier,
Heidelberg, 2011)
Eine Alt-Arie und ein Bass-Arioso nehmen nun im 3. Teil der Kantate Worte auf, die die Hoffnung des Christen beschreiben: „In deine Hände befehl ich meinen Geist; du hast mich erlöset, Herr, du getreuer Gott“ und „Heute wirst du mit mir (Christus) im Paradies sein“. Es sind auch Worte des sterbenden Jesus am Kreuz.
Mit Worten des Lutherchorals „Mit Fried und Freud ich fahr dahin in Gottes Willen, / Getrost ist mir mein Herz und Sinn, / Sanft und stille. / Wie Gott mir verheißen hat: / Der Tod ist mein Schlaf geworden.“ wird nun die christliche Deutung des Todes ausformuliert: „Der Tod ist mein Schlaf geworden“.
Die frohe, den Tod überwindende Botschaft ist verkündet. Es ist Zeit, Gott die Ehre zu geben. Das tut Bach feierlich mit der siebten Strophe des Liedes „In dich hab ich gehoffet, Herr“ von Adam Reusner (1533), das sich bis heute in unserem Evangelischen Gesangbuch findet.
Glorie, Lob, Ehr und Herrlichkeit / Sei dir, Gott Vater und Sohn bereit, / Dem heilgen Geist mit Namen! / Die göttlich Kraft / Mach uns sieghaft / Durch Jesum Christum, Amen.
V.
Zum Abschluss! „Der Tod ist groß. Wir sind die Seinen“ – so hatte ich anfangs Rilke zitiert. Ja, er ist groß, wenn er uns berührt, oder wenn wir uns eingestehen müssen, dass unsere Lebenszeit mit ihm eine harte Zäsur erfahren wird. Deshalb ist der Tod uns unheimlich und wird, so gut es geht, verdrängt. Aber sind wir „die Seinen“? Mit Bach möchte ich sagen und glauben: Wir sind „Gottes“, unsere und meine Zeit stehen in seinen Händen, weil „Gottes Zeit die allerbeste Zeit“ ist. Das ist, wenn wir es auf uns wirken lassen und annehmen, Angst mindernd. „Tod, wo ist dein Stachel?“, schrieb Paulus. Der Glaube, mein Glaube sagt, dass ihm der Stachel gezogen wurde.
Ich erzählte einer Freundin, die selbst Organistin ist, von „Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit“. Sie kannte die Kantate bisher aber nicht. Daraufhin hat sie sich eine Aufnahme angehört und schrieb mir dann:
„Welch eine Glaubensgewissheit gegen meinen
Kleinmut.
Welch ein Jubel zum Schluss, als alle Tiefen durchschritten
sind…“
Eine abschließende Frage sei noch gestellt: Wie mögen die Zeitgenossen Bachs diese fast modern zu nennende Musik empfunden haben? Haben sie sich die Ohren zugehalten oder waren sie – zumindest innerlich – begeistert?
Ich habe keine Antwort auf diese Frage aus dem Munde eines Gottesdienstbesuchers gefunden, der Bachs Musik gelauscht hat. Dass es aber – zumindest in der geistlichen Obrigkeit – auch kritische Reaktionen gegeben hat oder gar gegeben haben muss, lässt sich aus folgender Begebenheit schließen: Bach war vor seiner Zeit in Mühlhausen als 18jähriger im thüringischen Arnstadt als Organist angestellt worden. Nachdem er länger als genehmigt Lüneburg und Lübeck besucht hatte, gab es Ärger. Nicht nur wegen der eigenmächtigen Urlaubsverlängerung. Sondern auch wegen seines Orgelspiels. Ihm wird vorgeworfen, „zu oft die Tonart zu wechseln, dissonante Begleitakkorde zu spielen und mit ungewöhnlichen Tönen die Gemeinde zu verwirren“. Außerdem ist die Gemeinde mit der Dauer des Orgelspiels nicht einverstanden. Bachs Reaktion: Ab sofort orgelt er nur noch extrem kurz! Doch zeigt der wohl bald danach entstandene „Actus tragicus“, dass er seine Komponiertechnik mit wechselnden Tonarten, dissonanten Begleitakkorden und ungewöhnlichen Tönen beibehalten hat.
Musikwissenschaftlicher Teil (Axel Frieb-Preis)
I.
Einstieg
Begeistert
hat
mich diese Kantate schon als Jugendlicher, als ich die
Gelegenheit hatte, sie mitzusingen. Sie hat mich auch nicht mehr
losgelassen. Immer wieder gingen mir diese konturenreichen
ausdrucksstarken Motive durch den Kopf: „Gottes Zeit ist die
allerbeste“ [Beispiel 1],
„Bestelle dein Haus, denn du musst sterben“ [Beispiel 2] und „Es ist der alte
Bund“ [Beispiel 3].
Ich
möchte
in meinem Teil die Machart der Musik beleuchten, damit wir nicht
nur von der Wirkung der Kantate irgendwie berührt werden,
sondern nachvollziehen, wie Bach vorgegangen ist, um bestimmte
Wirkungen zu erzielen. In der Barockzeit war Kunst vielfach
Gesetzmäßigkeiten unterworfen. Viele davon greifen schon
spätestens seit der Renaissance auf die Antike zurück. So war es
mit der Figurenlehre, später Affektenlehre genannt.
II.
Figurenlehre
Ich
werde
einige Beispiele der Figuren vorstellen, damit Sie alle
bestimmte Verknüpfungen zwischen Text und Musik nachzuvollziehen
und dann sicher auch auf andere Werke übertragen können. Die
Figurenlehre, die sich auf die Antike zurückführen lässt, hat
ihre Wurzeln in der Rhetorik. Um zu belegen wie präsent und
wichtig diese Erkenntnisse während des Barockzeitalters waren,
möge es genügen daran zu erinnern, dass Bach in Lüneburg Latein-
und Rhetorikunterricht hatte und einige Wochen davon geschwänzt
hatte, um lieber hier in Lübeck bei Dietrich Buxtehude
Orgelunterricht zu nehmen.
Ganz
sicher
ging es bei der Figurenlehre auch nicht nur um Wirkung – wie
später eher in der romantischen Musik –, sondern darum, einen bestimmten Bauplan zu
nutzen.
Die barocke
Figurenlehre verknüpft Bedeutungen von Wörtern mit bestimmten
musikalischen Figuren. Diese heißen auch wortausdeutende
Figuren.
Drei klare Figuren möchte ich
vorstellen, die eine Rolle in der Kantate spielen.
Besonders plastisch ist das Seufzermotiv,
hier im Sopran auf dem Wort „sterben“ [Beispiel 4]. Etwas verschlüsselt ist in diesem
Beispiel der „Diabolus in musica“ („der Teufel in der
Musik“): ein Tritonus im Bass.
Und
die
Aposiopese (von griechisch αποσίιωπάω aposiopao,
verstummen). Diese finden wir ungewöhnlich deutlich am Ende der
großen Fuge. [Beispiel 5]
Wen
die
Figuren mehr interessieren, möge auf das Buch von Hans-Heinrich
Unger „Die Beziehungen zwischen Musik und Rhetorik im 16.-18.
Jahrhundert“, 1941, aufmerksam gemacht werden. Während meines
Studiums war es vergriffen und ich fand es sehr eindrucksvoll.
Nun ist 2015 ein Nachdruck erschienen.
III.
Die einzelnen Nummern
1.
Sonatina
Ausdrucksstark
im
barocken Sinne, geradezu expressiv im romantischen Sinne hebt
die Kantate mit ihren ruhigen Dissonanzen an. [Beispiel 6] Insgesamt 20 Takte,
die uns anrühren und auf die Trauer einstimmen. Arnold Schering
schreibt „Eine fünfstimmige, von Gamben begonnene, von den
Flöten weiter geführte Sonatina eröffnet das Werk. Dunkle
Farben neben hellen! Weiche mild dahin strömende Klänge! Es
ist, als ob Männer und Frauen einer Trauergemeinde leise vor
sich hin schluchzen.“
Dieser
Satz
ist meiner Einschätzung nach als letztes komponiert, so wie wir
es von Opernkompositionen kennen. Motive, die wir später hören,
sind in der Sonatina verschlüsselt schon zu hören. Ich dachte
plötzlich beim Klavierauszugspielen, das Motiv kenne ich doch.
Es war aus dem Klavierauszug der Sonatina. Jedoch in der
Partitur nicht zu finden. Das lag daran, dass Klavierauszüge
Klänge darstellen, wie wir sie vom Orchester hören, auch wenn
kein Instrument diese Tonfolgen für sich als Melodie spielt.
Der
Charakter
der relativ kurzen Sonatina ist meditativ und eher intim als
tragisch, was dem womöglich erst später hinzugefügten Titel
„Actus tragicus“ entgegenliefe. Jörg Scholz hat sich ja auch
schon kritisch dazu geäußert. Dieser kammermusikalische Einstieg
wirkt durch seine kleine und tiefe Instrumentalbesetzung
archaisierend, was schon vor Bachs Zeit im Zusammenhang mit dem
Thema Tod gerne so verwendet wurde (siehe auch Buxtehude und
Schütz).
Coro
2a: „Gottes Zeit“
Das
Thema
wird mit einem gebrochenen Es-Dur-Dreiklang im Sopran
eingeführt. [Beispiel 7] Es
beginnt mit der Terz und hat dann, dem Charakter des Textes
verpflichtet, einen aufstrebenden Duktus. Es wirkt geradezu
fanfarenhaft, was dieser Trauerkantate schon im ersten Chor,
kontrastierend zur rein instrumentalen Sonatina, eine tröstende
Richtung gibt.
Die
Tempi
des sechsteiligen Eingangschores sind:1. „Gottes Zeit ist die
allerbeste Zeit“ (ohne Angabe), 2. „In ihm leben, weben und sind
wir.“ (Allegro), 3. „In ihm sterben wir zu rechter Zeit“ (Adagio
assai), 4. Ach, Herr! Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben
müssen, auf dass wir klug werden.“ (Lento), 5. „Bestelle dein
Haus, denn du wirst sterben und nicht lebendig bleiben.“
(Vivace), 6. „Es ist der alte Bund: Mensch, du musst sterben.“
(Andante). Der 6. Teil wird von der Sopran-Solistin immer wieder
kommentiert: „Ja, ja komm, Herr Jesu“.
Wir
gehen
die Teile im Einzelnen durch: Die ersten 6 Takte „Gottes Zeit …“
sind unglaublich schwungvoll in Text, musikalischen Satz und
passen so auch zum Inhalt der Worte und geben in der Trauer
hoffentlich passenden Trost.
„In
ihm leben, in ihm streben, in ihm sind wir.“
[Beispiel 8] und das Leben- und
Webenmotiv erklären. Die Fuge ist sicher eine passende Form,
wenn man über die Wörter „leben“ und „weben“. Man kann sich bei
dem Weben-Motiv gut vorstellen wie das Schiffchen eines Webers
durch die Fäden gleitet, was Bach sicher gekannt hat.
„In
ihm sterben wir zu rechter Zeit.“
In
diesem
siebentaktigen Teil sticht die häufige Verwendung des
Seufzermotivs ins Ohr. [Beispiel 9]
Hier wird in Text und Musik erstmals nach der Sonatina die
Trauer direkt deutlich thematisiert.
Chromatik
liegt
besonders auf dem Wort „sterben“. Im 4. Takt ist der Tenor sehr
kunstvoll ausgestaltet. [Beispiel 10]
Eine
überraschende
Wendung am Ende, eine Schlusswendung von f-moll nach G-Dur. [Beispiel 11]
Arioso
2b (Tenor): „Ach, Herr, lehre uns bedenken“
Das
Tenorsolo
beginnt in der Form einer Chaconne [Beispiel
12]. Durch diese Form wird dieser Text passenderweise auch
dem heutigen Hörer besonders eingängig. Diese Wirkung hatte die
Chaconne sicher immer schon. Dieses Tenorsolo ist fast eine
Arie, aber typisch für den jungen Bach keine eigene Nummer. Der
Teil schließt direkt an den siebentaktigen Chor und mündet in
das Bass-Solo. Dort geht es ebenfalls attacca weiter.
Was inhaltlich auch typisch für eine Arie wäre, ist, dass die
mögliche oder mutmaßliche seelische Befindlichkeit des
Gottesdienstbesuchers/des Hörers hier aufgegriffen wird und
quasi das Kantatenthema aus dessen Perspektive kommentiert.
Aria
2c (Bass): „Bestelle dein Haus“
Hier
ist
ein deutlicher Aufforderungscharakter in der Musik aus dem Text
widergespiegelt. [Beispiel 13]
Auch deshalb machte es sicher Sinn, dass hier ein anderer Solist
weiter singt, weil es nicht mehr um die seelische Befindlichkeit
geht, sondern eher um eine Belehrung.
Das
Wort
„lebendig“ wird in der barocken Musik typisch direkt
ausgestaltet, auch wenn es eigentlich heißt „nicht lebendig“. [Beispiel 14]
Coro
2d: „Es ist der alte Bund“
Der
Text
„Es ist der alte Bund, du musst sterben“ des Chores [Beispiel 15] wird immer wieder
vom Sopransolo neutestamentarisch aufgefangen: „Ja komm, Herr
Jesu“. [Beispiel 16]
Typisch
ist
die, am Ende des Barocks schon eher altmodische Form, die Form
der Fuge zu wählen. Aber es passt zum Rückbezug auf das Alte
Testament.
Um
mal
anachronistisches Vokabular zu verwenden: die Continuo-Stimme,
die dem ohnehin schon tiefen Chor gegenübersteht wirkt wie ein
Walking-Bass. [Beispiel 17]
Der
Chor
tritt ungewöhnlich tief auf: Kein Chor-Sopran ist besetzt und
der Bass hat eine extrem tiefe Lage.
Das
Ende
dieses Satzes ist äußerst speziell und wir hören kurz hinein, um
nachzuvollziehen, dass Bach hier einen überraschenden und
offenen Schluss gestaltet hat.
Das
Ende
dieser Nummer erstirbt geradezu. Der Chor singt noch „Mensch, du
musst sterben!“ und endet leise während die Sopranistin erst mit
einem pulsierendem f im Continuo weiter im pp singt, was bei
Bach selten vorgeschrieben wird. [Beispiel
18] Am Ende singt sie ganz allein und es steht ein
weiterer Takt als Generalpause da mit Fermate! Das ist eine
Auslassung eines normalen Schlusses, eine Aposiopese.
Aria
und Arioso 3a und b (Alt, Bass):
a.
„In deine Hände“ und b. „Heute wirst du mit mir“
Vor dem Duetto wurde möglicherweise die
Trauerrede gehalten, wie der Herausgeber der Partitur Arnold
Schering annimmt. Oft schreibt Bach in seinen Kantaten vom 1.
und 2. Teil. Dann weiß man, dass dazwischen gepredigt wurde.
Äußerst kammermusikalisch geht es
weiter. [Beispiel 19] Zwei Takte
nur Basso-Continuo und Alt-Aria. Weitere 36 Takte geht es weiter
in der Besetzung Basso-Contino plus Bass. [Beispiel 20] Das passt sicher
hervorragend zum Text. Dazu kommt ab Takt 39 der langsame Choral
„Mit Fried´ und Freud´ ich fahr dahin.“ [Beispiel 21] Die Choräle
repräsentieren bei Bach ja meistens die Gemeinde, was selbst
hier gelten kann. Dass diese Funktionen der Arie und des Chorals
im Duett zusammengefasst sind, erhöht die Erlebnisdichte dieser
so kunstvoll gewobenen Kantate.
Coro
4: „Glorie, Lob, Ehr´ und Herrlichkeit“
Der
Schlusschor ist zweiteilig.
Im
ersten
Teil sticht ins Ohr, dass Bach einen sehr modern anmutenden
rhythmischen Effekt nutzt. [Beispiel
22]
Der
Text
lautet: „Glorie, Lob Ehr und Herrlichkeit sei dir, Gott Vater
und Sohn bereit, dem heilgen Geist mit Namen! Die göttlich Kraft
mach´ uns sieghaft“.
Der
zweite Teil ist eine Fuge mit dem Text „Durch Jesum Christum,
Amen“. [Beispiel 23]
Im
Schussteil
ist sehr viel Zuversicht zu hören. Es ist eine Fuge mit zwei
Themen. Es wird nicht – wie bei Fugen sonst meist üblich – erst
ein Thema eingeführt und dann mit einem Kontrapunkt begleitet.
Das „Amen“ wird zeitgleich zum „Durch Jesum Christum“ im Alt und
Tenor gestartet und die Außenstimmen folgen. Sehr spielerisch
wechseln diese Koalitionen in der Schlussfuge. Zwischendurch
kommt das „Durch Jesum Christum“-Motiv im doppelten Tempo leicht
abgewandelt. Am Ende augmentiert der Sopran das „Durch Jesum
Christum“-Motiv, d.h. es wird durch längere Notenwerte gestreckt
während die drei Unterstimmen sich auf das „Amen“ beschränken. [Beispiel 24]
Das Gesamtwerk
Die
Tonart
Es-Dur ist die einzige Tonart, in der Bach ein freies Orgelwerk
veröffentlichen ließ: Präludium und Fuge Es-Dur aus dem „III.
Theil der Klavierübung“ (https://www.youtube.com/watch?v=vSGKhzpqgwY).
Dies
war freilich ein Spätwerk. Aber ich möchte einen Stab brechen
für Bachs Frühwerk: Sowohl die in – selber Zeit entstandene –
Kantate „Aus tiefer Not schrei ich zu dir“ (BWV 38) als auch die
Johannespassion sind m. E. für ihre kleinteiligere Form als
spätere Werke bei gleichem inhaltlichen Tiefgang besonders
interessant und empfehlenswert.
Die
Besetzung
ist auch ganz dem Casus der Trauer verpflichtet und dabei bei
Bach einmalig: Es gibt zwei Blockflöten, zwei Gamben und
Continuo (also noch Kontrabass und Tasteninstrument: Cembalo
und/oder Orgel).
Zur Wahl des Aufführungstermins
Gestern
vor
100 Jahren war das Ende des 1. Weltkriegs. Wir haben den
Volkstrauertag gewählt, um diese Kantate an einen aktuellen
Gedenktag zu knüpfen.
Wir
hoffen,
dass wir Ihnen eine bereichernde und vertiefte Begegnung mit
Bachs Trauerkantate geben oder diese erweitern konnten. Es ist
wie mit allen großen Kunstwerken so, dass wir in Bezug auf unser
Leben immer wieder davon existentiell angesprochen und
bereichert werden. So ist in dieser Kantate noch so mancher
Aspekt zu finden, der uns in unserem innersten Kern etwas zu
sagen hat; und es lohnt sich, sich damit zu beschäftigen und vor
allem darüber auszutauschen.
(Frei kopierbar, keine gewerbliche Nutzung.)